U. Jureit: Magie des Authentischen

Cover
Titel
Magie des Authentischen. Das Nachleben von Krieg und Gewalt im Reenactment


Autor(en)
Jureit, Ulrike
Reihe
Wert der Vergangenheit 1
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 34,00
von
Valentin Groebner, Historisches Seminar, Universitaet Luzern

Der Klappentext ist kurz. «Über einen körperlich-emotionalen Zugang zur Geschichte» steht da, ein knapper Satz angesichts des breiten Themenspektrums, das Ulrike Jureit in ihrem Buch aufmacht. Ihr geht es um das Nachspielen militärischer Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts durch Privatpersonen im 21., und sie will es genau wissen: Was bedeutet der Boom dieser Reenactments für Geschichtskultur, Erinnerung und den kollektiven Umgang mit der Vergangenheit?

Das Nachspielen von Schlachten, zeigt die Verfasserin, ist kein neues Phänomen. Bereits im 19. Jahrhundert wurden sie als Umzüge, pageants, historische Festspiele und «lebende Bilder» nachgestellt. Jureit verweist dabei ausführlich auf die schweizerischen Forschungen zu diesen theatralischen Erinnerungsevents. Heutige Kriegsspieler haben mit ihren Vorgängern einiges gemeinsam. Die Grenze zur verschwundenen und unzugänglich gewordenen Vergangenheit soll überwunden werden; die Toten von damals – wenn auch nur für wenige Stunden – zum Leben erweckt, damit man unter sie treten kann und mitmachen. Das Kriegsspiel erzeugt ein fiktives «wir», das Lebende und Tote einschliesst.

Diese erste Person Plural ist allerdings nicht geschlechtsneutral. Die Reenactors, darauf verweist Jureit mehrfach, sind fast ausschliesslich Männer. Sie werden immer zahlreicher, in Europa wie in den USA, und ihre Aufführungen sind publikumswirksam. Das grösste mittelalterliche Reenactment weltweit ist mittlerweile die Schlacht von Grunwald/ Tannenberg mit 2000 Spielern und 200’000 Zuschauern am 600. Jahrestag 2010. Nachgespielte Schlachten des 19. und 20. Jahrhunderts, auf die sich Jureit konzentriert, sind ähnlich erfolgreich. Zum 150. Jahrestag der Schlacht von Gettysburg 2013 versammelten sich dort 15’000 kostümierte Kriegsspieler vor 200’000 Zuschauern. Das «War and Peace Revival» im britischen Kent, in dem vor allem Kämpfe aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nachgespielt werden, findet jährlich vor fast 100’000 Zuschauern statt – ein touristisches Retro-Spektakel mit mehr als 800 Verkaufsständen, Comedy and Tanzmusik aus den 1940ern bis 1960ern. Was macht diese Kriegsspiele so erfolgreich?

Reenactments im modernen Sinn entstanden in den USA, aus dem ritualisierten Händeschütteln ehemaliger Gegner im Bürgerkrieg, das erstmals 24 Jahre nach den Ereignissen, 1887, organisiert wurde. Als die letzten Veteranen verstorben waren, wurde es 1938 und 1963 von kostümierten Freiwilligen aufgeführt, ergänzt vom Nachspielen besonders dramatischer militärischer Episoden. Geprägt wurden sie vorwiegend von Erzählmustern der besiegten Südstaaten: Schon 1963 bemerkte der Historiker Karl S. Betts, dass der Süden den Krieg verloren haben mochte, aber die Hundertjahrfeier offensichtlich gewonnen. Bis heute sind es fast ausschliesslich weisse mittelständische US-Amerikaner, die bei diesen Kriegsspielen ihre nationale Zusammengehörigkeit in einem religiös aufgeladenen Ritual feiern. Die Grenzen zwischen gespieltem und realem Bürgerkrieg können dabei bedrohlich durchlässig werden. Im Sommer 2017 besetzten bewaffnete weisse Suprematisten das Schlachtfeld von Gettysburg, um es gegen angeblich drohende «Entweihungen» zu verteidigen. Im Gegensatz zu Kriegsspielern waren ihre Waffen mit scharfer Munition geladen; einer schoss sich versehentlich ins Bein.

Ulrike Jureits Buch erschliesst die umfangreiche Forschungsliteratur über die amerikanischen Kriegsspieler und ergänzt sie um eingehende Darstellungen der Reenactments europäischer Gegenstücke, in Form historischer Reportagen als Ortstermine bei den Feiern zum 200. Jahrestag der Schlachten von Grossgörschen und Leipzig 2013, dem 100. Jahrestag der Schlacht von Tannenberg/Skzotowo und dem 150. Jahrestag der Schlacht von Als im dänisch-preussischen Krieg 2014. Den Kriegsspielern, die sie interviewt hat, geht es aber nicht um die Vergemeinschaftung im Namen der Nation. «Wir wollen das erleben, aber wir wollen das vor allen Dingen auch den Zuschauern zeigen», sagt einer. «Und das ist genau der Punkt – es steigt der Adrenalinspiegel, wir wissen, es ist nicht echt, aber es fühlt sich echt irgendwo an, es ist aufregend.»

So intensiv sich die Reenactors um exakte Rekonstruktion von Ausrüstung und militärischen Abläufen bemühen, so drastisch reduziert ist ihre Auswahl der wiedergegebenen Szenen. Die Kriegsspieler zeigen zwar Verwundete und «Tote» (beides wenig begehrte Rollen; sie werden vorher per Losentscheid bestimmt); weggelassen wird aber alles, was weder der Selbstdarstellung der Spieler noch dem Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer entspricht. Also keine toten Pferde; keine Massaker an Gefangenen und Zivilbevölkerung; keine standrechtlichen Erschiessungen von Deserteuren und angeblichen Spionen, ganz zu schweigen vom qualvollen Tod von Verwundeten und Erkrankten und Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. All das sparen die Reenactments aus; im Namen von historischer «Authentizität».

Reenactments, haben Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld der Geschichtspädagogik und der Erinnerungskultur formuliert, zeigten «lebendige» historische Episoden und ermöglichten individuelle und «sinnliche» Aneignung der Vergangenheit als Spass, Emotion und Selbstverwirklichung. Stimmt alles, meint Jureit, die Ergebnisse sind allerdings etwas unheimlich. Denn Krieg ist dann am aufregendsten, wenn man dabei kein körperliches Risiko eingeht und ausserdem in den eindrucksvollsten Posen fotografiert werden kann – neben öffentlichen Kriegsspielen gibt es auch stärker gewaltbetonte «twilight tacticals», die ohne Zuschauer, aber mit Fotografen stattfinden. Bei aller Betonung des Authentischen ist das Kriegsspiel offensichtlich persönliche Wunscherfüllung mit Hilfe jener spezifischen Figuren und Ereignisse aus der Vergangenheit, die dafür am besten geeignet sind.

Die Verfasserin müht sich gewissenhaft, die unterschiedlichen Erklärungsansätze für diese Spektakel zu referieren. Kollektives Gedächtnis als positive «Identitätsstiftung», Spiel als Gegenwelt, Zeitreise als Pilgerschaft und temporäre Verwandlung: die gelehrten Definitionen von «Erinnerungskultur» erweisen sich als derart dehnbar, dass Reenactments sogar für ihr «bildungspolitisches Potential» gelobt werden – von touristischer Verwertung ganz zu schweigen. Der Leipziger Oberbürgermeister bezeichnete 2013 das Reenactment zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht sogar als «ernsthaftes Bemühen um Antworten auf die Frage nach der Zukunft Europas». Das ist fast so grotesk wie die Annahme, jede Form von kulturellem Erinnern sei positive Identitätsstiftung, wie Jureit zeigt. Reenactments, die sich strengen Authentizitätsregeln verpflichten, reproduzieren mit den Ordnungssystemen von früher damit auch deren rassistische und völkische Unterscheidungen.

Worauf, fragt sich die Autorin am Schluss, sind diese Inszenierungen eigentlich die Antwort? Die meisten Reenactors in den USA haben, trotz des überdurchschnittlichen Anteils an ehemaligen Militärangehörigen, keine eigenen Kriegserfahrungen, wie die Forschung zeigt. Viele sehnen sich nach eigenem Kriegserleben, um die Lücke zwischen dem Betrachten von Geschehnissen auf dem Bildschirm und dem eigenen Körper zu füllen. Die souveränen Machtgefühle, mit der selbst simulierte Gewaltausübungen einherzugehen scheinen, so ihr Fazit, sagen mehr über die Sehnsüchte der Gegenwart aus als über die historischen Geschehnisse, die sie zu rekonstruieren wiedergeben.

Reenactments, könnte man knapper zusammenfassen, sind nicht lebendig. Sondern artifiziell und untot: Weisses Ego-Kino. (Ich hätte gerne mehr über Kriegsfilme als direkte Vorlagen gelesen.) Am deutlichsten wird das, wenn man den Blick über die USA und Europa hinaus erweitert. Wird in Kenia oder Grossbritannien der Mau-Mau-Aufstand von 1953/56 nachgespielt – etwa 100 weisse und vermutlich weit über 80’000 afrikanische Opfer? Werden in Frankreich und Algerien die Unabhängigkeitskriege 1954–1962 (etwa 300’000 Opfer) oder in Indien und Pakistan die partition riots von 1947/48 (zwischen einer Viertelmillion und einer Million Tote) reinszeniert?

«Magie des Authentischen» heisst das Buch. Mit Magie ist gewöhnlich das Unerklärbare gemeint, die Wirkung auf den Betrachter vor dem Vorhang, hinter dem etwas abläuft, das ihm ungreifbar bleibt. Von diesem Zauber bleibt nach der Lektüre nichts übrig. Hinter dem Vorhang sind melancholische weisse Männer, die etwas wiederhaben wollen, von dem sie glauben, dass ihre Vorgänger es hatten: das starke Gefühl. Aber genau das unterscheidet sie von ihnen. Wer das massenhafte industrialisierte Töten erlebt hat, das zeigen alle Ego-Dokumente von Soldaten der letzten beiden Jahrhunderte, der will es wirklich nicht wiederholen.

Zitierweise:
Goebner, Valentin: Rezension zu: Jureit, Ulrike: Magie des Authentischen. Das Nachleben von Krieg und Gewalt im Reenactment, Göttingen 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (3), 2021, S. 581-583. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00093>.

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